Walther von der Vogelweide

Walther von der Vogelweide
Walther von der Vogelweide,
 
mittelhochdeutscher Dichter, * um 1170, ✝ um 1230; galt schon zu seinen Lebzeiten (z. B. bei Gottfried von Strassburg) und das ganze Mittelalter hindurch bis zu den Meistersingern als einer der herausragenden Liederdichter. Wieder entdeckt wurde er seit dem 18. Jahrhundert, insbesondere durch J. J. Bodmer und J. J. Breitinger. In über 30 Quellen (so in der »Kleinen Heidelberger Liederhandschrift«, in der »Manessischen Handschrift« und in der »Weingartner Liederhandschrift«) sind die Texte von mehr als 100 Liedern beziehungsweise musikalisch zusammengehörigen Strophengruppen (»Sangsprüche«, Spruchdichtung) erhalten. Von den dazugehörigen Melodien, deren Qualität besonders gerühmt wurde, ist als Einzige nur die zum »Palästinalied« direkt und vollständig überliefert, etwa zehn weitere können mit unterschiedlicher Sicherheit erschlossen beziehungsweise rekonstruiert werden. Da Walther in den Liedern immer wieder auch Persönliches mitzuteilen scheint, sind daraus mit einiger Vorsicht die Umrisse einer Biographie zu gewinnen. Das einzige außerliterarische Lebenszeugnis findet sich in den Abrechnungen des Passauer Bischofs (1191-1204) und späteren Patriarchen von Aquileja (1204-18), Wolfger von Erla, wo Walther für den 12. 11. 1203 in Zeiselmauer (Niederösterreich) als Empfänger einer Geldgabe (für den Kauf eines Pelzrocks) verzeichnet ist. Geburtsort und Stand Walthers sind nicht bekannt. Nach neueren Forschungen stammte er möglicherweise aus Niederösterreich; seine Liedtexte thematisieren immer wieder das Problem der gesellschaftlichen Anerkennung und legen damit niederen Adel oder eventuell noch geringere Herkunft nahe. Walther war einige Zeit am Wiener Hof, musste diesen aber, wahrscheinlich infolge des Todes Herzog Friedrichs I. (1198), verlassen und lebte dann als fahrender Berufssänger mit wechselnden Engagements und im Dienst verschiedener Landesfürsten. Beziehungen von unterschiedlicher Intensität sind nachweisbar u. a. zu Landgraf Hermann I. von Thüringen, Markgraf Dietrich dem Bedrängten von Meißen und Erzbischof Engelbert von Köln sowie dem österreichischen Herzog Leopold VI. Etwa um 1220 erhielt Walther von Kaiser Friedrich II. ein (kleines?) Lehen; seine letzten einigermaßen sicher datierbaren Lieder stammen von 1228/29. Der Überlieferung nach liegt Walther im Kreuzgang (heute: Lusamgärtlein) des Neumünsters in Würzburg begraben.
 
Walthers umfangreiches Werk umfasst, in vielfältigen Mischungen und Variationen, Lieder zu den Themenbereichen »Liebe«, »Moral/Ethik«, »Politik« und »Religion« (so den ersten Marienleich in deutscher Sprache); auch die eigene Person und Existenz werden immer wieder - in einer für die mittelhochdeutsche Lyrik neuen Intensität - thematisiert. Verschiedene Strophen mit Anspielungen auf die zeitgenössische Geschichte und Politik lassen sich ziemlich sicher datieren. Viele Strophen und Lieder aber, darunter die Liebeslieder, entziehen sich einer chronologischen Festlegung. Die mutmaßlich frühen Liebeslieder orientieren sich an der Ideologie der hohen Minne (Minnesang) in der Art von Reinmar dem Alten, mit dem Walther aber bald in ein offenkundiges Konkurrenzverhältnis geriet (»Reinmar-Walther-Fehde«). Walther hat die Konzeption der hohen Minne mit der ihm eigenen Aggressivität zunehmend problematisiert und dann das Ideal einer gegenseitigen, gleichberechtigten und erfüllten Liebe gepriesen, die v. a. durch das Ideal der »mâze« (Vermeiden der Extreme) gekennzeichnet ist. In allen Formen der Liebeslyrik, in raffiniert-innigen Liedern der Liebesfreuden wie auch in argumentativ komplizierter Gedankenlyrik sind ihm Texte von höchstem poetischem Rang gelungen. Dasselbe gilt für diejenigen Strophen und Lieder, in denen Walther religiöse Themen, Probleme der richtigen und falschen Lebensführung, der Politik seiner Zeit sowie der eigenen Sängerexistenz (in ihrer Abhängigkeit von seinen fürstlichen Gönnern) behandelt. Bewirkt durch sein privates Schicksal und durch die politischen Ereignisse (v. a. sein unfreiwilliges Scheiden aus Österreich und die bürgerkriegsähnlichen Zustände im Reich nach dem überraschenden Tod von Kaiser Heinrich VI. 1197), wurde Walther zum Schöpfer der deutschen politischen Lyrik: Eingespannt in ein Netz von Abhängigkeiten, verfasste er im Dienst verschiedener Reichsfürsten und immer wieder auch für gegensätzliche Interessen politische Texte, in denen er sich als hoch begabter und wirkungsvoller, gelegentlich auch bedenkenloser Agitator zeigte. Zwei Strophen Walthers gegen die Kreuzzugspolitik von Papst Innozenz III. sind die einzigen des hohen Mittelalters, für die durch die Reaktion des Thomasin von Zerklaere eine Wirkung bezeugt ist. Bei aller Abhängigkeit war Walther sich seines publizistischen Werts bewusst und spielte diesen selbstsicher immer wieder aus. In welchem Nahverhältnis er, falls überhaupt, zu den staufischen Königen Philipp von Schwaben, Friedrich II. und Heinrich (VII.) sowie zu dem Welfen Otto IV. stand, ist nicht genau bekannt. Er unterstützte die kaiserlichen Kreuzzugspläne in verschiedenen Strophen und Liedern; doch kann daraus sowie aus dem offenbar schon damals sehr bekannten »Palästinalied« eine eigene Teilnahme an einer Kreuzfahrt (etwa im Gefolge von Friedrich II.) nicht eindeutig erschlossen werden. Hervorzuheben ist auch Walthers Alterslyrik, die in eindrucksvollen Bildern und Formulierungen die Vergänglichkeit der Welt und den Glauben an Gott darstellt.
 
Die Qualität wie auch die politischen Inhalte von Walthers Texten bewirkten eine intensive Rezeption im 19. (u. a. durch L. Uhland, K. Lachmann und K. Simrock) und 20. Jahrhundert, häufig verbunden mit einer - nur noch dem »Nibelungenlied« vergleichbaren - ideologischen Vereinnahmung. Walthers »Preislied«, aus der Situation des 19. Jahrhunderts heraus verstanden, diente A. H. Hoffmann von Fallersleben als Anregung für das »Deutschlandlied« (1841). Nach 1945 bemühte sich die Germanistik um eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Dichtung Walthers; seit den 1960er-Jahren gewann sie überraschende Aktualität, v. a. in der kritischen Literatur- und Liedermacherszene. Außer dem »Palästinalied« wurde besonders das »Lindenlied« häufig - zum Teil in zeittypischer Instrumentalisierung - aufgeführt, eingespielt beziehungsweise neu bearbeitet.
 
Ausgaben: Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien, herausgegeben von H. Brunner u. a. (1977); In dieser Welt geht's wundersam. Die Gedichte, herausgegeben von H. Witt (1984); Werke, herausgegeben von J. Schaefer (21987); Gedichte, herausgegeben von P. Wapnewski (136.-137. Tausend 1993); Sämtliche Lieder, herausgegeben von F. Maurer (61995); Leich, Lieder, Sangsprüche, herausgegeben von C. Cormeau (141996); Gedichte, herausgegeben von H. Paul, bearbeitet von S. Ranawake, auf 2 Bände berechnet (1997 folgende).
 
 
G. F. Jones: W. v. d. V. (New York 1968);
 M. G. Scholz: Bibliogr. zu W. v. d. V. (1969), fortgesetzt v.
 B. Bartels: Bibliogr. zu W. v. d. V., in: Wiss. Ztschr. der Univ. Greifswald, Bd. 30, H. 3/4 (1981); Ulrich Müller: Unters. zur polit. Lyrik des dt. MA. (1974);
 H. Kuhn: Minnelieder W.s v. d. V. (1982);
 K. H. Halbach: W. v. d. V. (41983);
 G. Hahn: W. v. d. V. (1986);
 H. Sievert: Studien zur Liebeslyrik W.s v. d. V. (1990);
 A. Mundhenk: W.s Zuhörer u. a. Beitrr. zur Dichtung der Stauferzeit (1993);
 
W. v. d. V. Epoche - Werk - Wirkung, bearb. v. H. Brunner u. a. (1996).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Rittertum und höfische Kultur: Vom Krieger zum Edelmann
 

Universal-Lexikon. 2012.

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